von David Schmidt
Es ist ernüchternd. Wir sind mittlerweile mitten in der 4. Welle in Deutschland und 5. Welle in der Schweiz. Täglich wird ein trauriger Inzidenzrekord nach dem anderen gerissen. Die Spitäler füllen sich erneut erschreckend schnell, Pflegefachkräfte und Ärzt:innen arbeiten weiterhin am Limit und darüber hinaus, unsere Politik weiss offenbar nicht wie sie reagieren soll und unsere dauerverwöhnte Gesellschaft ist gespalten wie selten zuvor. In Deutschland sind nur zwei Drittel und in der Schweiz sogar nur etwas mehr als 60% der Volljährigen zweimal geimpft. Von den dringend nötigen Boosterimpfungen, der dritten und wahrscheinlich komplettierenden Impfung, ist man hier in der Schweiz noch weit entfernt. Diese Quote ist, laut der breiten Masse an Virolog:innen, nicht ausreichend für eine nachhaltige und erfolgreiche Bekämpfung des Coronavirus. Hätten wir eine genügend hohe Impfrate erreicht, hätten wir sehr wahrscheinlich die Pandemie mittlerweile grösstenteils hinter uns und oder zumindest unter Kontrolle. Leider ist dem nicht so. Wir sind aktuell schlimmer dran, als je zuvor in den letzten zwei Jahren. Es fällt mir schwer diesen Blog zu schreiben. Die Thematik und die täglichen Diskussionen ermüden und ärgern mich zutiefst. Es wird mir eventuell nicht gelingen, diesen Text vollumfänglich wertungs- bzw. emotionsfrei zu schreiben. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum und wieso weite Teile der Bevölkerung die Vorteile der Impfung nicht sehen können, nicht sehen wollen und nicht selten absurde Behauptungen zu diesem Thema aufstellen. Das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft, die gefühlte Abwesenheit des gesunden Menschenverstands und eine, zumindest zu vermutende, fehlende Empathie gegenüber den Mitmenschen scheinen in der Gruppe Ungeimpfter offenbar weit verbreitet und für mich schwierig zu verstehen. Es gibt daher gute Gründe, uns die Motive hinter der Impfverweigerung anzuschauen und mögliche Anreize für die Impfung darzustellen. Wie ist der derzeitige Stand und was empfiehlt die Wissenschaft? Einen interessanten Einblick gibt dazu die Gemeinschaftsstudie COSMO (COvid-19 Snapshot Monitoring) unter Federführung von Cornelia Betsch von der Universität Erfurt (projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020). Dieses Projekt versucht wiederholt und in regelmässigen Intervallen den aktuellen „psychologischen Ist-Zustand“ in der deutschen Bevölkerung zu erfassen, entsprechende Vorschläge für Kommunikationsmassnahmen mit korrektem, hilfreichen Wissen anzubieten und Falschinformationen und Aktionismus vorzubeugen. Die Studie soll deutschen Behörden, Medien und der Bevölkerung dazu dienen, die psychologischen Herausforderungen der COVID-19 Epidemie besser einzuschätzen und im günstigsten Falle auch zu bewältigen. Die Ergebnisse und Empfehlungen werden laufend angepasst und zu keiner Zeit in Stein gemeisselt. Basierend auf den Erhebungen vom 19.-20.10.21 und 02.-03.11.21 fasst die Erfurter Forschungsgruppe die aktuellen Resultate wie folgt zusammen:
Die Thüringer Foscher:innen empfehlen unteranderem:
Was wissen wir zu den Gründen die Ungeimpfte vorbringen und können diese überhaupt noch zu einer Impfung motiviert werden? „Wichtiger Hinweis: Bei der Bewertung der folgenden Ergebnisse ist zu beachten, dass die Befragten dieser Studie der Impfung grundsätzlich etwas positiver gegenüberstanden als die durchschnittliche Bevölkerung und nur der Personenkreis im Alter von 18-74 Jahren befragt wurde. Dies kann zu einer zu positiven Verzerrung der Ergebnisse führen (Unterschätzung der Impf-Unwilligen und evtl. Überschätzung der erreichbaren Impfquote) und repräsentiert nicht alle Personen, welche geimpft werden könnten.“ Unter den derzeit Ungeimpften lehnen weiterhin ca. 64% die Impfung kategorisch ab, während nur 7% der Befragten potenziell impfbereit wären. Der Grossteil der zu impfenden Bürger:innen scheint bereits erreicht und die Impfquote daher nur noch marginal nach oben verschiebbar. Hinsichtlich der Impfentscheidung zeigen sich keine relevanten Unterschiede bzgl. des Geschlechts, des Bildungsgrades oder der Berufswahl. Auffällig ist dagegen, das Desinteresse am Impfschutz im Osten Deutschlands und bei jüngeren Bundesbürger:innen. Eine weitere Gruppe, die sich unterdurchschnittlich oft impfen lässt, ist jene der Migrant:innen. Offenbar fehlt der Zugang oder die adäquaten Argumente, welche die Vorteile für den Eigen- und Fremdschutz gut erklären können. Die Daten zeigen, dass Ungeimpfte weniger Vertrauen in die Impfung haben, eher als „Trittbrettfahrer“ fungieren und sich weniger interessiert am Schutz Dritter zeigen. Bei den verbliebenen 7% potenziell Impfbereiten scheinen vor allem praktische Barrieren im Weg zu stehen. Dieses gilt es bei anstehenden Impfkampagnen zu beachten! Wie könnten diese 7% Impfwilligen erreicht werden? Informationen in einfacher und klar verständlicher Muttersprache vermitteln. Im besten Fall durch glaubwürdige Mitglieder der spezifischen Migrationsgruppen. Beispielsweise über Sportler:innen, Influencer:innen, Musiker:innen, Geistliche etc. Die Befragten wünschen sich mehr Informationen zu den Inhaltsstoffen der Impfungen, einen Vergleich zwischen den Präparaten, detailliertere Informationen zu Impfdurchbrüchen, Nebenwirkungen und den viel diskutierten, potenziellen „Langzeitfolgen“. Folgende Schritte sollten von den besonders glaubwürdig eingestuften Instanzen (Robert-Koch-Institut und Spitälern) vorgenommen werden:
Das wir von den in Deutschland ca. 30% und schweizweit 35% Ungeimpften nur deren 7% noch erreichen können, ist für die Pandemieprognose katastrophal. Wie können wir dem, neben den bereits genannten Möglichkeiten, noch anders begegnen? - Wahrscheinlich leider nur mit verpflichtenden Massnahmen. Da die Möglichkeit einer Impfpflicht, wie in Österreich (allgemeine Impfpflicht), Frankreich oder Italien (jeweils bestimmte Berufsgruppen), in Deutschland und der Schweiz politisch schwierig durchzusetzen ist und sich die politisch Verantwortlichen bisher vor zu unpopulären Entscheidungen gedrückt haben und auch weiterhin tun, scheint es zumindest kurzfristig auf eine 2G, 2G+ oder 3G+ Lösung hinauszulaufen. Allerdings müssten dann auch die Kontrollen deutlich konsequenter ablaufen und Verstösse mit entsprechend drastischen Sanktionen belegt werden. Etwas was unter Umständen für Deutschland, aber leider kaum für die traditionell konfliktscheue Schweiz vorstellbar ist. Wenn die Verantwortlichen nicht kurzfristig und drastisch reagieren, müssen wir davon ausgehen, dass wir der Ärzteschaft und den Pflegenden die fürchterliche Triage, Entscheidungen über Chance auf Leben und Tod, mit unserem Verhalten zumuten werden. Was das mit der Psyche der vor Ort handelnden Personen macht und für langfristige Folgen auf die Motivation zur Arbeit mit Schwerkranken haben wird, kann man jetzt noch nicht sagen. Die Tatsache das Deutschland diesen Winter aufgrund der Kündigungen von Pflegekräften rund 20% weniger Intensivpflegebetten zur Verfügung hat, deutet diesbezüglich auf eine schlimme Entwicklung hin, welche uns alle auch noch lange nach Corona beschäftigen wird. Vielleicht ist es jetzt doch Zeit, über eine allgemeine Impfpflicht oder zumindest deutlich stärkere Einschränkungen für Impfunwillige nachzudenken. Österreich mit der anstehenden allgemeinen Impfpflicht und Singapur, mit der Weigerung der Kostenübernahme für Covid-Behandlungen bei Ungeimpften, geben uns dafür praktikable und nachahmenswerte Beispiele. Lohnfortzahlungen für Ungeimpfte im Krankheits- und Quarantänefall könnten wegfallen und noch einiges mehr. Vorschläge gebe es zur Genüge. Konflikte werden sich nicht vermeiden lassen. Vielleicht wird es sogar Zeit diese endlich durchzustehen und rational hinter uns zu bringen - gemeinsam. Quellen https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/summary/54-55/ https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/files/COSMO_W55_Quali.pdf https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/archiv/16-01/cosmo-analysis.html#3_psychologische_lage
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AutorSchreiben Sie etwas über sich. Es muss nichts ausgefallenes sein, nur ein kleiner Überblick. Archiv
September 2023
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